Die Eisenbahnkatastrophe von Münchenstein

Herbst 2013

Mit 72 Toten und 171 zum Teil schwer Verletzen war die Eisenbahnkatastrophe in «Mönchenstein» von 1891 die damals grösste Tragödie der kontinentaleuropäischen Bahngeschichte. Julius Settelen, Gründer der Firma Settelen, war als einer der ersten vor Ort. Er stellte seinen Fuhrpark sogleich in den Rettungsdienst und fotografierte den folgenschweren Unfall.

Den schwärzesten Tag ihrer Geschichte erlebt die JS bereits ein Jahr nach ihrer Gründung. Am 14. Juni 1891 - einem strahlend sonnigen Sonntag - findet in Mönchenstein (heute: Münchenstein) ein Bezirksgesangsfest statt. Schon früh sind die Zufahrtswege von Gesangsfreunden belebt. Die Züge der JS bringen bereits am Morgen Hunderte von Teilnehmern und Zuschauern von Basel nach Münchenstein, der ersten Station der Linie Basel - Delémont. Um 14.15 Uhr dampft der rappelvolle Nachmittagszug aus dem Centralbahnhof Basel ab, kommt jedoch nur noch bis zur Birs. Ein Theologiestudent, der in der 3. Klasse reist,  beschreibt die kurze Fahrt: «Durch die breiten Risse und Spalten des elenden Bretterbodens sah man Steine, Schwellen und Unkraut blitzartig vorbeiziehen.  […] Bei der Birsbrücke plötzlich ein stärkerer Stoss als alle bisherigen.»

Unter der Last des mit rund 550 Reisenden gefüllten Zuges bricht die 1874/75 von Gustave Eiffel errichtete Eisenbrücke ein. Die hintersten fünf Passagierwagen stürzen nicht ab. Sie kommen dank der Druckluftbremse noch vor der Brücke zum Stehen. Die meisten Reisenden dieser Wagen haben Glück und kommen mit dem Schrecken davon. Zwei Lokomotiven, Personen-, Post- und Gepäckwagen stürzen aber in die Birs; ein Wagen bleibt am Bord hängen. 171 Reisende in den abgestürzten Wagen werden schwer verletzt, 72 sterben.

Unter ihnen befindet sich auch Wilhelm Bubeck, der den Basiliskenbrunnen entworfen hat. Das letzte Opfer der Katastrophe ist ein Soldat, der sich bei den Rettungsarbeiten schwer verletzt und erst Wochen später den Verletzungen erliegt. Bis zu diesem Zeitpunkt ist dieser Unfall die grösste Tragödie der Eisenbahngeschichte Kontinentaleuropas.

Schaulustige verstopfen die Strassen

Das Sängerfest in Münchenstein wird sofort nach Bekanntwerden des Unglücks abgebrochen. Viele Sänger eilen von der Kirche, wo das Fest stattgefunden hat, zum Unfallort und versuchen gemeinsam mit Überlebenden erste Hilfe zu leisten. Auch Julius Settelen ist als einer der ersten bei der eingestürzten Brücke und verewigt die Eisenbahnkatastrophe auf zwei Fotos. Ob er auch das Sängerfest besucht hat, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Er soll seinen Fuhrpark sofort in den Rettungsdienst gestellt haben, um Verletzte ins Bürgerspital zu bringen, das sich damals unmittelbar neben dem alten Settelen-Standort an der Davidsgasse befindet. Die National-Zeitung berichtet: Die «Strasse zwischen Münchenstein und Basel» ist voller «Droschken, Breaks, Omnibusse; [darunter] fährt mancher stille Wagen, der mit Särgen beladen ist.» Behindert werden die Rettungsarbeiten durch unzählige Schaulustige, welche die Strasse verstopfen. Bald herrscht in Münchenstein «ein Gedränge, dass man in der Menschenmasse kaum durchkommt, auf der Wiese vor der Unglücksstätte hat sich eine ganze Wagenburg von unzähligen Vehikeln aller Art angesammelt.»

Für die breite Öffentlichkeit ist schnell klar, wer für das Unglück verantwortlich ist: Die Jura-Simplon-Bahn (JS). Kritisiert werden nicht nur Sicherheitsmängel, sondern auch das Krisenmanagement. Vor allem «Eisenbahnbaron» Eduard Marti, ihr Direktor, gerät ins Schussfeld.

Die National-Zeitung sieht ihn nur «als eine flüchtige Erscheinung an der Unglücksstätte.» Er hat keine Zeit. Er muss «seine Rede an die Aktionärsversammlung» vorbereiten, «die ihm das unentbehrliche Vertrauensvotum einbringen» soll. Als die JS vier Tage nach der Tragödie in Tageszeitungen Inserate schaltet, um die Öffentlichkeit über die zulässige Verzögerung «der Lieferfrist für den Güter- und Vieh-Verkehr» infolge der «Verkehrsstörung bei Mönchenstein» (!) zu informieren, ist das Ansehen der Bahngesellschaft in der Region ruiniert.

«Die Zukunft gehört der Staatsbahn»

Die Eisenbahnkatastrophe sorgt europaweit für Aufsehen. Auch die wirtschaftsnahe Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) widmet ihr einen Leitartikel. Sie hält fest: «Jede Privatgesellschaft fragt in erster Linie nach dem Gewinn, den der Bahnbetrieb abwirft, und gerade Ausgaben, die zur Sicherung des Verkehrs unumgänglich sind, können ihr unter Umständen als unproduktiv erscheinen. […] Die Zukunft gehört darum ganz unzweifelhaft der Staatsbahn.» Die FAZ sollte Recht behalten. An der Volksabstimmung vom 20. Februar 1898 stimmen über zwei Drittel der Schweizer Männer der Verstaatlichung der fünf grossen Privatgesellschaften zu. Am 1. Januar 1902 fährt der erste Zug der heutigen SBB.