Droschkierstreik

Sommer 2012

Zwischen 1854 und 1936 existiert in Basel als Vorgänger der Taxis ein geregelter Droschkendienst. 1907 - vor genau 105 Jahren - streiken die Droschkiers in Basel. Die «Droschkenanstalt Settelen» als einer der Grossen auf dem Platz ist stark von diesem einmaligen Ereignis betroffen. Die Arbeitsniederlegung verletzt Julius Settelen, den Gründer und damaligen Patron des Familienunternehmens zutiefst.

Die Basler Droschken

Mitte des 19. Jahrhunderts ist Basel eine Kleinstadt mit knapp 30 000 Einwohnern. Dem aufstrebenden Bürgertum stehen nur so genannte Lohnkutscher zur Verfügung. Diese Klein- und Kleinstunternehmer besitzen Hinterhof-Stallungen am Rande der Innenstadt und in den Vorstädten. Wenn zum Beispiel ein Bankier eine Kutsche benötigt, muss er sie in der Regel bereits am Vortag bestellen, indem er einen Angestellten oder eine Dienstmagd beim Lohnkutscher vorbei schickt. Denn dieser muss zum richtigen Zeitpunkt verfügbar sein. Und er benötigt für das Schirren und Einspannen des Pferdes gegen eine Stunde. Pünktlichkeit, Höflichkeit und gepflegtes Material bleiben dabei oft auf der Strecke. Das Bedürfnis nach einem geregelten Droschkendienst erwacht. Im Januar 1852 schreibt das «Intelligenzblatt der Stadt Basel», die Vorgängerin der «Basler Nachrichten»: «Fast in allen Städten findet sich nun ein Stadtdroschkendienst eingeführt und die Unternehmen finden dabei meist Ihre gute Rechnung.» Der Autor fährt fort: «Billig wundern darf man sich, dass hier in Basel noch keine solche Fahranstalt eingerichtet ist, während solche in Städten von kaum der Hälfte Einwohnerzahl und fast keinem Geschäftsverkehr längst eingeführt sind.»
Ein Jahr später wird der Ruf des «Intelligenzblattes» erhört. 102 Aktionäre - die meisten prominente Kaufleute, Industrielle und Bankiers - gründen am 31.Oktober 1853 die «Baslerische Droschkenanstalt». Sie soll der Stadt einen «tadellosen Droschkendienst» anbieten. Am 1. Mai 1854 nimmt das Pionierunternehmen von der Elsässerstrasse 4 (heute: St. Johannspark) aus seinen Betrieb auf. Dafür stehen ihm zwölf Droschken und acht zentrale Standplätze zur Verfügung. Von der Stadt erhält sie 20 Droschkenkonzessionen. Droschkenzahl und -dichte steigen 40 Jahre lang kontinuierlich bis 1895 in Basel die elektrische Strassenbahn eingeführt wird. Der Droschkenbestand reduziert sich um gut 10%, aber erst das Taxi wird ab Beginn der 1920er Jahre das langsame aber sichere Absterben des Basler Droschkengewerbes einleiten. 1936 geht Basels letzter Droschkier - ein Settelen-Mitarbeiter - in Pension.

Die Droschkiers

In Basel arbeiten häufig alt gediente deutsche Militärs, Fuhrleute vom Land und vereinzelt auch Handwerker als Droschkiers. Nur in wenigen Fällen stammen sie aus Basel. Meist sind sie ledig - nicht zuletzt wegen der speziellen Arbeitsbedingungen: Sie beginnen in der Regel kurz nach 5 Uhr mit dem Putzen, Füttern und Tränken der Pferde und sind meist bis 22 Uhr im Dienst. Die Droschkiers haben das ganze Jahr hindurch keinen einzigen Tag frei, ausser wenn sie einen Ersatzmann auf eigene Kosten engagieren. Als 1893 Basels Grosser Rat das «Ruhetagsgesetz» erlässt, machen im Dezember 49 Droschkenkutscher eine Eingabe an die Polizeidirektion mit der Feststellung: «Im Neuen Arbeitsgesetz sei ihr Berufsstand bezüglich der Sonntagsarbeit übergangen worden». Sie fordern mit Erfolg, anstelle von freien Sonntagen, zwölf freie Tage pro Jahr nach freier Wahl. 

Der Lohn des Kutschers setzt sich aus drei Komponenten zusammen: Der fixe Wochenlohn beträgt einheitlich Fr. 5.-. Bedeutender als der Lohn ist der variable Verdienstanteil. 1900 stehen dem Droschkier auf dem von ihm abgerechneten Umsatz eine «Tantieme» von 8% zu. Zusätzlich darf er mit einem Trinkgeld rechnen - allerdings hat er keinen gesetzlichen Anspruch darauf. Dieses liegt üblicherweise bei 10%. Massgeblichen Einfluss auf die Höhe des Trinkgeldes haben Serviceleistung und Umgangsformen des Kutschers. Im Jahr 1900 erzielt ein Settelen-Kutscher eine Tantieme von Fr. 7.27 pro Woche. Davon ausgehend, dass die Trinkgelder doppelt so hoch ausfallen, käme ein Droschkier auf einen Brutto-Wochenverdienst von rund Fr. 27.-, was etwas mehr ist, als ein Industriearbeiter nach Hause trägt. Allerdings ist die Arbeitszeit des Droschkiers wesentlich länger: Industriearbeiter stehen etwa 60 Stunden in der Woche an ihrem Arbeitsplatz, ein Droschkier etwa 50% mehr. Ein Grund liegt darin, dass die Droschkiers kaum gewerkschaftlich organisiert sind. Um die Jahrhundertwende gründen sie zwar schon zwei «Fachvereine». Diese sind aber nicht politisch aktiv und kümmern sich vor allem um soziale Belange, in erster Linie um die Krankenkasse. 

Klassenkampf

Als Robert Grimm 1906 das Basler Arbeitersekretariat am Blumenrain 5 übernimmt, erhalten die Droschkiers einen sehr kämpferischen Fürsprecher. Zum einen versucht er sie gewerkschaftlich zu organisieren und ist bereits im Dezember erfolgreich: Der «Basler Droschken-Kutscher-Verein» wird ins Leben gerufen. Wilhelm Renz wird Präsident, Josef Kohler Aktuar. Beide arbeiten schon Jahre für die «Droschkenanstalt Settelen». Zum andern veranlasst er in der sozialdemokratischen Tageszeitung «Basler Vorwärts» eine mehrteilige Artikelserie mit dem Titel «Das Elend der Droschkenkutscher». Am 12. Dezember 1906 ist dort in zeittypischer klassenkämpferischer Manier zu lesen: «In die Kategorie der schlechtest gestellten Arbeiter gehören zweifelsohne die Droschkenkutscher. Sie, die jahrein, jahraus Dämchen und geschniegelte Herrchen herumführen müssen, denen schon der Anblick des gewöhnlichen Arbeiters ein Greuel ist, haben weder eine geregelte, der Gesundheit zuträgliche Arbeitszeit, noch eine der grossen Arbeitsleistung entsprechende Entlöhnung.» Namentlich kritisiert werden die «Gebr. Keller» - neben Settelen die grössten Arbeitgeber der Droschkiers -, die im Umgang mit dem Personal «[…] den Rekord in schäbiger Unternehmer Anmassung» aufstellen. Das harte Brot der Droschkiers wird zu einem breit diskutierten Thema. Die Zeit für politische Forderungen ist reif. Der «Basler Droschken-Kutscher-Verein» und Arbeitersekretär Grimm verlangen im Frühjahr 1907 Verhandlungen mit den Arbeitgebern. Ziele sind geregelte Arbeitszeiten (12-Stunden-Tag), Überzeitzuschläge sowie bezahlte freie Sonn- und Ferientage. Nachdem eine praktisch unterschriftsreife Vereinbarung vorliegt, interveniert Grimm und verlangt ultimativ Erhöhungen des Taglohnes von Fr. 3.- auf Fr. 3.50 und der als «Tantieme» bezeichneten Umsatzbeteiligung von 8% auf 20%. Ein sofortiges Eintreten auf diese Forderungen ist den Arbeitgebern nicht möglich. Denn die Löhne machen bereits rund 50% der Betriebskosten einer Droschke aus und der Mehraufwand ist nur über eine Tariferhöhung, die der Regierungsrat genehmigen müsste, wettzumachen. So scheitern die Verhandlungen und die Droschkiers in Basel greifen zu einem für diese Berufsgruppe äusserst seltenen Mittel: Sie treten am 1. Juli 1907 in den Streik - unseres Wissens dem einzigen der Schweizer Geschichte! Aus den sieben Droschkenhaltereien auf dem Platz Basel mit rund 80 konzessionierten Droschken treten rund 60 Droschkiers in den Streik.

Rund die Hälfte der Streikenden arbeitet bei Settelen. Der schwer erkrankte Julius Settelen führt auch nach der Arbeitsniederlegung die Verhandlungen mit den «Seinen» weiter. Drei Tage nach Streikbeginn erhält er ein von 28 streikenden Droschkiers visiertes Schreiben. Darin lehnen sie seine Forderung ab, den Betrieb am 5. Juli bedingungslos wieder aufzunehmen. Auch Arbeitersekretär Grimm bleibt nicht untätig und schreibt bei Streikbeginn den Sattlern von Settelen und Keller: «Wir erwarten […], dass kein Sattler oder Schmied uns in den Rücken fällt und zum Verräter an der Sache der Arbeiter werde. Verweigert alle Streikarbeit.» Ob sein Aufruf befolgt wird, lässt sich nicht mehr feststellen.
Nach fünftägigem erfolglosem Streik nehmen die Droschkiers am 6. Juli 1907 - dem «Bündelitag» - die Arbeit wieder auf. Trotzdem ist der schwer kranke Julius Settelen verletzt. Er kann die Arbeitsniederlegung nicht verstehen. Denn seit der Einführung der Taxameter (1896) - schreibt Julius Settelen in einem Kommentar zum Streik - herrscht «ein für solche Betriebe seltenes freundliches Verhältnis zwischen Arbeitgeber & Arbeitnehmer». Dies ist wohl mit ein Grund, weshalb Settelen den allermeisten Streikenden die Treue hält. Viele bleiben noch Jahrzehnte im Betrieb. Nur die Funktionäre des «Basler Droschken-Kutscher-Vereins» werden entlassen.